Landau liest ein Buch
- ein Buch wird zum Stadtgespräch -

1. Platz

Ulrike Grömling, Speyer

Luises Weg

»Müssen wir jetzt suchen? Ich bin mit den Hausaufgaben noch nicht fertig.« Widerwillig folgte Luise ihrer Mutter auf den Dachboden.
»Dein Tutu ist zu klein. Es müsste noch ein größeres da sein. Sieh bitte im Schrank nach, ich suche hier. Beeil dich, der Geigenunterricht fängt bald an.« Hastig durchwühlte Tina den Inhalt von vier Kartons, bis sie schließlich rief: »Da ist es. Aber das Gummi ist ausgeleiert und der Stoff vergilbt. Es ist nicht mehr zu gebrauchen.« Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und tippte darauf herum. »So, ein neuer Ballettanzug ist bestellt. Er wird übermorgen geliefert. Das passt perfekt!«
In diesem Moment öffnete Luise eine Holzkiste. Sie zuckte zusammen, schrie auf und flüsterte: »Guck mal, Mama, wie gruselig! Das Gesicht der Marionette könnte meins sein. Aber die Fäden sind abgeschnitten. Mit der Puppe kann man nicht mehr spielen. Wer macht denn so etwas?«
Luises Mutter zuckte mit den Schultern. »Die Figur wurde nach einem Portraitfoto meiner Schwester handgeschnitzt. Lore hat oft gesagt, sie und diese Marionette seien eins. Doch das hat sie nicht davon abgehalten, die Schnüre durchzuschneiden. Im Kaputtmachen war sie schon immer gut.«
»Ich mag Tante Lore. Mit ihrem Lachen steckt sie mich immer an. Schade, dass ich sie nur an den Geburtstagen sehe und nie zu ihr darf. Erinnerst du dich an die Bilder von ihren Lämmchen? Sie waren so süß!«
»Ja, Lore kann sich gut einschleimen. Bind deine Haare zusammen und zieh dich um, wir müssen gleich los.«
Im Auto fragte Luise: »Warum hat Tante Lore die Fäden abgeschnitten?«
»Aus Undankbarkeit und Egoismus. Dabei wurde sie mit Fürsorge überschüttet. Sie sollte Hauswirtschaft erlernen und später die Eltern pflegen. Aber meine Schwester ist mit Thilo durchgebrannt, dem größten Versager aller Zeiten. Sie hat die Schnüre der Puppe abgeschnitten, um unsere Eltern zu kränken. Lore praktiziert jetzt Homöopathie für Tiere, ihr Typ züchtet Schafe und verkauft Käse. Eine tolle Karriere stelle ich mir anders vor. Als die Eltern Hilfe brauchten, kam eine fremde Frau ins Haus. Das haben sie nie verwunden.«
»Warum hast du Oma und Opa nicht geholfen?«
»Na, hör mal! Ich war verheiratet, hatte einen eigenen Haushalt, und dann kamst du. Ich kann mich doch nicht um alles kümmern!«
Nachdenklich betrat Luise die Musikschule. Im Flur stand Marie mit verschränkten Armen. »Ich will nicht mehr Geige spielen«, sagte sie. »Meine Eltern glauben, sie könnten mich dazu zwingen. Aber ich schwänze! Gehst du mit?«
»Das kannst du doch nicht machen.«
Marie stieß ein abfälliges »Pah!« aus und rannte davon.
Während des Unterrichts wanderten Luises Gedanken immer wieder zu der Mitschülerin. Dabei verkrampfte sich die Armmuskulatur, und der Schmerz zog bis in den Nacken.
Nach 45 Minuten wartete ihre Mutter vor dem Übungsraum. Auf dem Weg zum Auto sagte sie: »Marie ist kein guter Umgang für dich. Du solltest sie meiden.«
»Aber sie ist meine Freundin!«
»Ach was, solche Freunde triffst du überall!«
Luise erinnerte sich daran, dass ihre Mama seit dem großen Streit mit Anna nur noch Bekannte hatte, aber sie verkniff sich eine Antwort.
Am Abend übte Luise Vokabeln und ergänzte die Hausarbeit. Todmüde fiel sie ins Bett, doch an Schlaf war nicht zu denken. Bis weit nach Mitternacht wälzte sie sich hin und her. Im Traum erschien ihr Tante Lore und kam mit einer spitzen Schere in der Hand auf sie zu. Schreiend wachte Luise auf.
*
Der nächste Schultag zog sich in die Länge und Luise sehnte die Pause herbei. In ihrer Brotdose lagen wieder Dinkelbrotstullen mit veganem Aufstrich und roher Paprika. »Wie oft muss ich noch sagen, dass ich Vollkornbrot und Hafermilch satthabe?«, murmelte sie und verschenkte ihr Frühstück an den ewig hungrigen Ben. Nach Mathe, Chemie und einer Doppelstunde Latein beim langweiligsten Lehrer der Schule stand das Wahlfach Gestaltendes Spiel auf dem Programm. Lustlos schlenderte sie in die Aula.
Die Kursleiterin vergab Rollen, und alle rissen sich darum. Nur Luise stand teilnahmslos abseits. Sie wurde von Sarah angesprochen, die sich immer vordrängelte. »Warum meldest du dich für den Kurs an, wenn du nicht mitspielen möchtest?«
»Ich wollte nie mitmachen. Das war die Idee meiner Mutter.« Luise setzte sich mit einem Buch in den Zuschauerraum und verließ erst nach fünfzehn Uhr das Schulgebäude.
Ihre Mutter wartete schon und blockierte mal wieder einen Lehrerparkplatz. Wie immer predigte sie während der Heimfahrt über gesunde Ernährung und lobte die Kurse. »Das Gestaltende Spiel wird dir guttun. Haltung und Ausstrahlung sind sehr wichtig. Wer weder Körperspannung noch Ausstrahlung besitzt, wird irgendwann zu den Verlierern gehören, und das willst du doch nicht!«
Die Sätze perlten an Luise ab wie Regen an einem Plastikschirm.
Zu Hause bereitete ihre Mutter den üblichen grünen Smoothie zu. »Du isst und trinkst zu wenig. Das ist ganz schlecht für deinen Körper, und das Gehirn trocknet aus.«
»Oh Mama! Man könnte meinen, du wärst heute in der Schule dabei gewesen.«
»Mütter wissen das. Man nennt es Intuition. Aber jetzt beeil dich, du hast heute noch französische Konversation.«
»Ich hätte gern eine Pizza.«
»Auf gar keinen Fall! Es gibt Tofu und Sprossensalat, ein echtes Superfood.«
Lustlos stocherte Luise auf dem Teller herum. »Mag sein, dass das gesund ist, Mama. Es schmeckt trotzdem nicht.«
»Du bist erst 13 …«
»Fast 14!«
»Auch wenn du fast 14 bist, weiß ich, was gut für dich ist. Jeden Tag berechne ich deinen Kalorien- und Mineralstoffbedarf und achte auf eine ausgewogene Ernährung. Es ist keine gute Idee, das Frühstück abzugeben.«
Dieser Satz hallte lange in Luises Ohren nach. Woher wusste Mama das? Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie, dass es Ereignisse gab, die sich nicht mit Intuition erklären ließen.
Erst kurz vor Mitternacht klappte Luise das Chemiebuch zu und löschte das Licht. Die Augen brannten, und sie fiel in einen unruhigen Schlaf. Im Traum sah sie sich selbst als Marionette, und ihre Mutter hielt das Spielkreuz. Die Fäden zogen sich, wurden immer länger, legten sich um den Körper, banden die Hände und schnürten den Hals zu. Luise wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Schweißgebadet wachte sie auf.
*
Am Morgen legte die Mutter Luise prüfend die Hand auf die Stirn. »Du siehst krank aus. Aber es ist kein Fieber, und du versäumst keinen Unterricht.« Zufrieden nickend packte sie Vollkornbrot und Paprikastücke in die Box. »Zieh dir eine Hose an, draußen ist es kühl.«
»Ja, Mama.« Luise seufzte und zog sich um. Immer wieder dachte sie an den Traum, und es gelang ihr nicht, dem Unterricht zu folgen. In der Pause ging sie grübelnd auf und ab, gab sich schließlich einen Ruck und murmelte: »Ich muss es testen!«
Sie schaltete das Handy stumm. Als sie sich unbeobachtet fühlte, schrie sie kurz auf und humpelte zur Sportlehrerin. »Frau Große-Hüpfer, ich habe mir gerade den Fuß verknackst und kann kaum laufen, so weh tut er mir.«
»Dann kühle den Knöchel mit einem nassen Tuch. Wenn es schlimmer wird, solltest du zum Arzt gehen.«
Lächelnd setzte sich Luise auf die Bank und sah den Turnerinnen zu. In der Pause schaute sie aufs Handy. Fünf Anrufe wurden angezeigt. Alle von Mama. Da kam der sechste Anruf.
»Luise, was ist mit dir? Soll ich dich zum Arzt fahren?«
»Nein, das ist nicht nötig, es geht mir schon viel besser«, antwortete Luise und beendete das Gespräch. Ihre Miene verfinsterte sich, und sie ballte die Hände zu Fäusten. »So geht das nicht«, rief sie, »ich muss etwas tun!« Die verwunderten Blicke der Mitschüler kümmerten sie nicht.
Am frühen Abend wurde sie abgeholt und ihre Mutter fragte sofort nach der Verletzung. Luise antwortete nur einsilbig. Zu Hause zog sie sich in ihr Zimmer zurück und rief Lore an.
»Luise, wie schön, dass du dich meldest. Ist etwas passiert?« Besorgnis schwang in der Stimme mit.
»Nein, es ist alles in Ordnung. Übernächste Woche fangen die Osterferien an. Sag mal, kann ich da einen Kurs bei dir buchen?«
Lore lachte. »Nein, bei mir gibt es keine Kurse.«
»Das ist aber schade.«
»Bei uns wurde soeben das zehnte Lämmchen geboren. Thilo und ich kümmern uns auch um das gutmütige Gnadenbrotpferd Willi, das bewegt werden will, und den Hund Cäsar, der wieder lernen muss, Menschen zu vertrauen. Wenn dir das als Programm genügt, bist du bei uns herzlich willkommen!«
»Ist ja irre! Na klar, ich möchte die Ferien sehr gern bei euch verbringen.«
»Erlaubt deine Mama das? Du bist erst 13 …«
»Fast 14! Ich kriege das hin!«
Kurz sammelte sie sich und ging mit entschlossenen Schritten ins Wohnzimmer. Ihre Mama stand mit hochrotem Kopf vor dem Fenster, knetete die Finger und schrie: »Wieso telefonierst du mit Lore? Was soll das?«
Luise setzte sich auf die Couch, sah ihrer Mutter ruhig in die Augen und fragte: »Warum überwachst du mich?«
»Äh, das mache ich nur für dich.«
»Du ortest nicht nur mein Handy, du hörst mich auch ab. Wie machst du das?«
»Spyfly«, murmelte sie nach mehreren Anläufen, »das ist eine Spionage-App, die man auf dem Handy nicht sieht. Ich wähle mich ein und höre, was du sagst. Das mache ich aber nur aus Sorge um dich.«
»Was hast du getan?«, brüllte Luises Vater und sprang vom Sessel auf.
»Patrick, nun beruhige dich, ich beschütze sie doch nur.«
»Wie soll ich da ruhig bleiben? Du wendest Stasimethoden an! Tina, das ist strafbar und das weißt du ganz genau. Von wegen Schutz, das ist Vertrauensbruch!«
»Heutzutage passiert so viel! Das kann Luise gar nicht überblicken!«
»Erkläre ihr, wo die Gefahren lauern und vertraue ihr einfach. Die App muss sofort gelöscht werden!«
»Das sehe ich auch so«, bemerkte Luise kühl. »Übrigens werde ich die Osterferien bei Lore und Thilo verbringen.«
»Auf keinen Fall! Ich habe dich für einen Ferienkurs in englischer Literatur angemeldet!«
»Das kannst du vergessen!«
»Lore ist durch und durch verantwortungslos! Da lasse ich dich nicht hin.«
»Dann klebe ich mich morgen wie die Umweltaktivisten an die Autobahn. Auf mein Transparent schreibe ich: Keine Überwachung durch die Mutter!«
»Luise, das kannst du nicht machen!«
»Doch, das kann ich!«
Mit hochrotem Kopf schnappte Luises Mutter nach Luft und setzte mehrmals zur Antwort an, bevor sie sagte: »Dann fahr besser zu Lore. Von der App trenne ich mich. Aber die Schulsachen nimmst du mit und lernst dort!«
Luise nickte. Unter Vaters Aufsicht wurde Spyfly gelöscht. Er sank in den Sessel und schüttelte noch lange den Kopf. Ihre Mutter rang so verzweifelt die Hände, als plane Luise die Besteigung des Mount Everests.
*
Zehn Tage später stieg Luise zu Lore ins Auto.
»Deine Treffen mit Mama sind immer frostig. Schön, dass du mich trotzdem abholst.« Sie schaltete ihr Handy aus. »Ich habe die kaputte Marionette gefunden. Sag mal, Tante Lore, warum hast du die Fäden abgeschnitten?«
Lore lenkte den Wagen auf einen Parkplatz neben dem Stadtpark und stellte den Motor ab. »Meine Eltern haben alles über meinen Kopf hinweg entschieden. Nie fragten sie, was ich will. Irgendwann wurde mir alles zu viel.«
»Das verstehe ich. Es geht mir ähnlich. Warst du froh, als du die Fäden abgeschnitten hattest?«
»Nein. Es war sehr schmerzhaft. Für uns alle.« Lores Augen füllten sich mit Tränen. »Musst du auch Fäden durchtrennen, Luise?«
»Ich werde sie nicht kappen, ich will sie selbst in die Hand nehmen.«
Anerkennung lag in Lores Blick, als sie sagte: »Donnerwetter, das ist eine reife Leistung für ein Mädchen, das fast 14 ist!«
Luise legte lächelnd den Zeigefinger auf die Lippen und schaltete das Handy wieder ein. Sie stieg aus und warf es mit Schwung ins dichte Gebüsch.
»Das ist jetzt nicht sehr umweltfreundlich.«
»Keine Sorge, Mama wird es orten und innerhalb der nächsten halben Stunde finden.«
»Tina wird toben!«
»Ja, das glaube ich auch. Sie wird sogar ausflippen, wenn sie merkt, dass die Tasche mit den Schulsachen noch in meinem Zimmer steht.«
Lore lachte hell auf und fragte augenzwinkernd: »Zwei Wochen ohne Handy, hältst du das durch?«
»Klar! Marie hat mir ihr Zweit-Handy ausgeliehen. Das andere brauche ich in den Ferien nicht. Ich muss doch langsam lernen, die Schnüre zu halten und alleine zu laufen.«

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