Landau liest ein Buch
- ein Buch wird zum Stadtgespräch -

PLATZ 2:
Cheyenne Bühler, Eduard-Spranger-Gymnasium, Klasse 10

zu: „Aber ich will auch ein Stück von diesem Leben“ (Thomas Hettche: Herzfaden, S. 242)


Ein Leben


Mein Leben ist anders als das Leben anderer Kinder in meinem Alter. Normale Kinder gehen zur Schule, treffen sich nachmittags mit ihren Freunden und spielen abends ein Brettspiel mit ihren Eltern. Bei mir ist das nicht so. Morgens kann ich nicht
alleine aufstehen, ich gehe auf keine normale Schule und die Mittage und Abende verbringe ich meistens alleine Zuhause. Das liegt daran, dass ich querschnitts-gelähmt bin.

Für dich klingt das jetzt wahrscheinlich wie die schlimmste Krankheit der Welt, die man sich vorstellen kann, sein Leben lang im Rollstuhl zu sitzen und niemals richtig laufen zu können, und glaub mir, das ist sie auch.

Jeden Tag aufzuwachen und genau zu wissen, dass dieser Tag genauso sein wird wie die Tage zuvor, eine endlose Schleife, aus der ich niemals ausbrechen kann. Es fühlt sich an wie Gefängnis, gefangen von einer Krankheit, die mich so sehr einschränkt, dass ich in meinem Leben noch kein einziges Mal wirklich glücklich war. 13 Jahre schon bin ich gefangen und zu wissen, niemals laufen zu können wie die
anderen Kinder, ist ein Gefühl, das sich niemand vorstellen kann.

Die Menschen um mich herum, eigentlich ist das nur meine Betreuerin Julia, weil meine Eltern nicht wissen, wie sie mit einem Pflegefall wie mir umgehen sollen, sagt immer, ich solle den Kopf nicht hängen lassen und kämpfen, bis es eines Tages einen Durchbruch für die Querschnittslähmung gibt.

Du verstehst das Gefühl vermutlich nicht, aber mein einziger Wunsch ist es, auch ein Stück von diesem Leben zu haben. Der Gedanke daran, nur ein Leben zu haben und das Beste aus seinem einen Leben rauszuholen, ist schmerzhaft, weil das einfach
nicht möglich ist, wenn du im Rollstuhl sitzt. Ich habe lange versucht, positiv zu denken, doch irgendwann waren auch meine Kräfte am Ende. Dieses ständige Positivdenken hat nichts gebracht und jetzt bin ich an einem Punkt angekommen, an dem ich es einfach nicht mehr aushalte. Schon öfter habe ich darüber nachgedacht, diesem Kampf und Schmerz ein Ende zu bereiten, doch ab und zu schimmert dieser
eine Funke Hoffnung in mir. Hoffnung darauf, gesund zu werden, glücklich zu sein und ein normales Leben führen zu können.

Es ist nicht so, als ob ich es nicht versucht hätte Freunde zu finden. Doch niemand will mit einem Krüppel wie mir befreundet sein. Ich kann die anderen Kinder ja verstehen, ich selbst würde vermutlich auch nicht gerne mit einem wie mir gesehen werden, jemandem der kein Fußball, Tanzen oder Verstecken spielen kann. Und trotzdem tut es so verdammt weh, andere dabei zu beobachten, wie sie zusammen
lachen und sich gegenseitig glücklich machen.
Manchmal bemerke ich die Blicke der anderen Menschen. Sie schauen mich voller Mitleid an. Mitleid, das mir überhaupt nichts bringt. Mitleid, das ich nicht haben will. Mitleid, das mich noch viel mehr verletzt, weil die Menschen mich als anders ansehen. Aber wer will als „anders“ abgestempelt werden? Niemand. Jemand möchte zur Gesellschaft gehören, am besten nicht auffallen, das ist das Ziel vieler
Menschen. Eigentlich ist auch das traurig. Hätte ich die Chance ein normales Leben zu führen, dann würde ich auffallen wollen. Ich würde gut in der Schule sein, von allen Lehren gemocht werden, einen Nobelpreis gewinnen oder bei einer Tanzshow mitmachen. Der Beste bei einer Sportart sein, viele Rezepte kochen, gut singen können oder viele Sprachen sprechen. Natürlich könnte ich einige dieser Dinge auch
jetzt tun, aber sind wir mal ehrlich, wen interessiert es, was ein dreizehnjähriger Junge im Rollstuhl so kann?

Heute Morgen bin ich, wie jeden Morgen, um sieben Uhr von meiner Betreuerin geweckt worden. Sie hat mir geholfen mich anzuziehen und meine Zähne zu putzen, alltägliche Dinge, die für gesunde Menschen als selbstverständlich gelten, doch für mich ist es jeden Morgen eine Hürde, ein Stolperstein, dem ich entweder ausweichen oder über den ich fallen kann.

Um acht wurde ich von einem sogenannten „Behinderten-Bus“ abgeholt, toller Name, nicht wahr? Ein Bus in dem nur Kinder sitzen, die krank sind. Kinder, die nicht die Chance bekommen, auf eine normale Schule zu gehen, und zusammen an einen Ort gebracht werden, an dem sie unter sich sind. Eine Abgrenzung vom realen Leben, eine Grenze zwischen Alltag und diesen unheilbaren Krankheiten. Doch glaubt die Gesellschaft wirklich, dass es uns gut tut, nicht unter normalen Umständen zu lernen? Was würde ich nicht alles dafür tun, um auch nur einen einzigen Tag in diesem verdammten Leben eine normale Schule besuchen zu dürfen.

Ab 14 Uhr bin ich wieder Zuhause. Ein Ort, den ich eigentlich nicht als mein Zuhause sehe. Das Haus, in dem ich lebe, wirkt so unberührt, so fremd, denn es ist kein Platz, an dem ich mich wohlfühle. Vielmehr ist es ein Teil dieses Gefängnisses. Jeden Tag wache ich dort auf und komme jeden Mittag wieder dorthin zurück. Doch ich kann nichts daran ändern, wie an so vielen Dingen in meinem Leben. Ich habe keinen Einfluss auf mein Leben, zumindest fühlt es sich so an. Entscheidungen darf ich nicht für mich selbst treffen, weil mir das als „Junge im Rollstuhl“ nicht zugetraut wird. Dabei geht es meinem Kopf doch gut. Meine Gehirnzellen arbeiten hervorragend, doch die Menschen denken anscheinend, dass auch das ein Teil meiner Krankheit sei.

Heute Nachmittag bin ich zusammen mit Julia eine Runde an die frische Luft gegangen. Sie behauptet, mir würde das guttun. Ich bin mir da aber nicht so sicher, denn sobald ich draußen bin, spüre ich diese Blicke auf mir und sehe andere Kinder, die mit ihren Freunden spielen. Doch „Zuhause“ zu sein, macht mich auch nicht glücklicher, deswegen akzeptiere ich das einfach und sehe die frische Luft als positiv an.

Jetzt will ich dich nicht länger aufhalten, denn ich habe dir schon lange genug von meiner Geschichte erzählt. Eine Geschichte, die du morgen wahrscheinlich schon vergessen hast, doch das ist mir egal, denn es gibt so viele Menschen mit einer wichtigeren Geschichte. Und du hast deine eigene Geschichte, die du selbst schreiben kannst. Dir stehen hoffentlich alle Möglichkeiten offen und nutze jede Gelegenheit, um dein Leben so zu gestalten, wie du es dir vorstellst. Verwirkliche deine Ziele, habe Spaß mit deinen Freunden, nimm nicht alles zu ernst und genieße jeden Augenblick, damit du ihn niemals vergisst. Lass deine Träume wahr werden und vergiss niemals, dass du dieses eine Leben in vollen Zügen genießen solltest. Genieße es für dich, aber auch für alle anderen Menschen, denen die Möglichkeit
genommen wurde, ihre Träume zu verwirklichen.