Landau liest ein Buch
- ein Buch wird zum Stadtgespräch -

2. Platz

Ursula Dörler, Stelzenberg

Leises Surren und elektrisches Knistern schreckten mich auf

Leises Surren und elektrisches Knistern schreckten mich auf. Taghell war es im Zimmer. Bin ich nicht eben erst - spät in der Nacht zwar - heimgekommen? Um nicht Frau und Kinder unnötig zu stören, war ich völlig übermüdet auf dem Sofa eingeschlafen. Ich riss die Augen auf und erschrak. Ich war nicht mehr allein.
Mitten auf dem Boden saß mein Michel. Michel, so nannten wir unsere Marionette, mit der kleinen Stupsnase im Gesicht und den dunklen Augen. Eine blaue Wollmütze bedeckte nicht ganz den pechschwarzen Schopf. Mit zu großer Karo Hose und knallroten Lederschuhen glich er einem Filou. Seit Jahren war hier über dem Sofa im Wohnzimmer sein fester Platz.
Kam es von daher, dieses seltsame Geräusch? Und wieder hörte ich elektrisches Knistern.
„Michel, du? Was kauerst du am Boden? Was werkelst du da?“
Mir kam es überhaupt nicht merkwürdig vor, mit ihm zu sprechen. Merkwürdig fand ich eher seine Fäden. Was heißt Fäden: Es waren dünne, durchsichtige, fortlaufende Schlauchsäulen zu seinem Kopf und den Armen. Darin pulsierte ein kontinuierliches Auf und Ab schwebender kleiner, amorpher Partikel, glitzernd in fluoreszierendem Türkis und hellem Orange.
„Ich zapfe Gedanken aus der fünften Dimension“. Michels Augen blinkten mich geheimnisvoll an.
„Du machst bitte was?“
„Wie ihr Strom aus Steckdosen holt“ – er wies in den leeren Raum – „so hole ich hier positive Gedanken heraus. Hier bei eurem Sofa. Hier ist so eine Stelle.“
„Was? Wo?“
Ich runzelte die Stirn, konnte mir keinen Reim darauf machen.
„Eine Koordinierungsstelle“.
„Aha“, sagte ich, ohne zu verstehen. „Koordinieren? Was denn?“
„Hier sind Quellen wunder-, wunderbarer Energie“, begeisterte er sich mit weitausladenden Armen.
Ich sagte besser nichts.
“Für euch ist das unsichtbar. Wir sehen sie.“
„Wer: wir?“
„Wir. Wir Marionetten. Überall auf der Welt tun wir das. Wir retten gerade die Welt für euch.“  Verschmitzt drehte er sein Köpfchen zu mir herauf.
„Puppen, willenlose Geschöpfe, die an Fäden hängen, die Welt retten?“
„Jawohl.“ Michels sonst fein gezogene rote Lippen kräuselten sich zu einer beleidigten Schnute.
„In Wahrheit sind es unsere Fäden die das tun, genauer: feinstoffliche Bahnen. Damit leiten wir angezapfte Energien weiter und – sagen wir – nutzen sie.“
„Wahnsinn“, sagte ich, meinte aber Unsinn.
„Eigentlich - ganz einfach.“, plauderte Michel unbeeindruckt weiter. „Hier zapfen wir, schau, einfach so …“ Wieder tippte seine Hand an einer Leerstelle im Raum, ohne dass ich etwas zu identifizieren vermochte.
„Genau hier.“, zeigte er. „Über unsere ´Fäden` leiten wir Energie zu euch Menschen.“ Er gluckste vor Begeisterung. „Damit ihr endlich positiv denkt. Oder eure Gedanken in Ordnung bringt,“ nuschelte er und werkelte unbeirrt weiter.
Ich schüttelte nur den Kopf.
Vermutlich hielt er mich für beschränkt, denn spontan erhob er sich und ergriff meine Hand. Sein Händchen haltend, spürte ich ein zartes, elektrisierendes Kitzeln. Es war angenehm, wenngleich fremdartig. Erneut stellte sich dieses seltsame Knistern ein. Unvermittelt fand ich mich in eine völlig andere Umgebung hineinversetzt.
Mich bedeckt ein riesiger dunkler Schatten. Tiefe Beklemmung ringt in mir mit purer Neugier. Welch Schauspiel tut sich da auf? Direkt vor meinen Augen? Mir stockt das Blut. Ein schwarzer Puma. Rhythmisch hechelt das große Tier seinen weißen Atemdunst in die grüne Tiefebene vor ihm. Reglos steht er. Fast greifbar nah. Mein Herz pocht in die stille Ebene hinein. Wenigstens würdigt er mich keines Blicks. Auf einem felsigen Vorsprung stehend lauert er weit über das dschungelartige Tal. Dort, am flimmernden Horizont, ragt aus dem breiten Landschaftsgürtel eine imposante Silhouette hervor. Das ist - das ist unmöglich. Nein. Doch? Hier? Und so groß?
Schlagartig wird mir bewusst, worauf ich starre: die Skyline Manhattans. Aber, aber - New York inmitten eines riesigen Urwaldes?
Mehr fasziniert als irritiert folgt mein Blick zoomartig einem langen, breiten Boulevard in das urbane Innere.
Verzauberndes Licht vom nahen Hafen glitzert zurück in die Straßenschluchten. Erst allmählich nehme ich auch Verkehr wahr. Nur – kein Geräusch ist zu hören. In einer durchsichtigen Röhre in halber Höhe der Gebäudefronten bewegen sich pausenlos Fahrzeuge. Hoch über den Wolkenkratzern schweben achteckige Objekte.
Und sattes Grün sprießt überall, Pflanzenkörbe hängen kaskadenförmig an Turmgebäuden, Gärten bedecken Dächer.
Fast hätte ich sie übersehen, die vielen Menschen. Dabei herrscht rege Geschäftigkeit, überall.
Abrupt fiel die Szene in sich zusammen, ähnlich einem herunter sausenden Rollup.
„Was war das?“
Nach Orientierung tappend und völlig benommen schaute ich mich um.
Michel, als hätte er darauf gewartet, stand mit verschränkten Armen inmitten des Raumes und seufzte wie ein entnervter Erwachsener.
„New York“.
„Whow, ja schon. Aber was war das? Es war so real, so echt.“
Meine Neugier kehrte zurück.
„Ah, du meinst … Ein Hologramm.“
„Das, das war ein …?! Aber ich habe es doch erlebt, körperlich, war mitten drin.“, rief ich aufgeregt.
„Eben. Ein Hologramm,“ gab er schelmisch zurück. Offenbar zufrieden mit meiner verblüfften Reaktion schob er nach: „Oder so ähnlich.“
„Nee, Nee. Moment mal. Woher, wieso... So etwas taucht nicht plötzlich auf und verschwindet, surr, einfach weg.“
„Es war ein Hologramm, und es war New York.“, beharrte er.
„Nun, denn. Und Technik - braucht man auch nicht dafür, Laser, Projektor, Fotomaterial? Nein? Das geht ganz ohne, einfach so, zack?“ Ich schnippte mit dem Finger.
Erstaunlicherweise ließ der kleine Wicht sich nicht so leicht verspotten.
„Noch mal.“
Michel bedeckte mit seiner Gliederhand die Augen als könne er die Begriffsstutzigkeit nicht fassen. Langsam und betont deutlich fuhr er weiter:
„Was du gesehen hast“, Pause, „diese City im Grünen“, Pause, „das ist so etwas wie ein Hologramm.“ Lange Pause. „Erzeugt mit Energie, hieraus.“ Er wandte sich erneut jener leeren Stelle zu.
Völlig verunsicherte ertappte ich mich tatsächlich dabei, gleich ihm nach diesem imaginierten Punkt zu fassen. Mit zusammengekniffenen Augen und angestrengtem Gesicht beobachtete Michel, ob ich ihm folgen würde.
Aber ich wollte nicht mehr.
„Erzeugt wurde eine Vision.“, tönte er lauter weiter.
Ich starrte auf die vielen „Fäden“, die wieder um ihn herum – jetzt lauter - zu knistern anfingen und bunte bizarre Blitze aufleuchten ließen.
„Deine Vision.“
Und eine noch lautere Stimme drang an meine Ohren:
„Dein Zukunftsszenario.“
Hatte er das gesagt? Oder bildete ich mir diesen Satz nur ein?
Als Michel beide Arme nach mir ausstrecken wollte, wich ich entsetzt zurück.
Eine furchtbare Ahnung hatte sich meiner bemächtigt und ein ungutes, flaues Gefühl in der Magengegend hinterlassen.
Urplötzlich hallte die Stimme des Zwergs aus einer entfernten Raumecke, klang metallisch, war hässlich verzerrt.
„Die Welt nach der Klima-Katastrophe So wie du sie dir vorstellst. Dein New York.
Der Puma hat dich schon immer fasziniert.“
Du musst protestieren. Wehr dich, trieb ich mich an. Aber ich brachte kein Wort hervor. Nur an den Bewegungen des Kiefers merkte ich, dass mein Mund auf und zu ging.
Es war zwecklos. Zu spät. Es war zu spät.
„Ihr seid in jeder Hinsicht zu spät dran. Viel zu spät. Ihr Menschen. Wir – wir Marionetten - haben das in die Hand genommen!“
Höllisches Kinderlachen echote, von links, rechts, von oben und unten.
In dieses dröhnende Stimmengewirr mischte sich allmählich qualvolles Knarren und Rasseln. Vollends in Panik vor weiterem Surren und Knistern schlug ich wie wild auf diesen Lärm ein.
Ein schriller Weck-Ton ließ mich wie geschockt auffahren. Michel hing über dem Sofa – wie immer. Ein Traum. Ich wischte mir Schweiß aus den Augenrändern.
Spät am Tag, im Büro, verfolgten mich wirre Erinnerungen. Zur Ablenkung surfte ich mit dem Laptop im Netz. Gerade wollte ich zuklappen, da fesselte mich eine Schlagzeile.
„Wissenschaftlern aus dem Forschungszentrum Jülich ist ein Durchbruch gelungen.“
Gebannt las ich weiter.
„Mit Hilfe eines mit Lichtgeschwindigkeit arbeitenden Quantencomputers ließe sich nicht nur die hochkomplexe Leistung eines menschlichen Gehirns nachbilden; mit einem solchen super-schnellen Rechner könnte man auch die Gedankenkapazität aller menschlichen Gehirne drahtlos verbinden und nutzen. Chaotische Systeme wie Klima und Wetter ließen sich so besser und weltweit beherrschen. Mit einem Prototyp rechnen sie schon in ein paar Jahren.“
In der letzten Zeile stand: „Küstenstädte wie New York müssen eine Klimakatastrophe nicht mehr fürchten.“
Wie betäubt sank ich in meinem Bürostuhl zurück.
Wer zieht die Fäden?

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