Landau liest ein Buch
- ein Buch wird zum Stadtgespräch -

3. Platz

Astrid Dinges, Dexheim

Meine Marionetten

„Der Kasper soll mit der Großmutter noch einmal Walzer tanzen“, erschallte eine Stimme aus der kleinen Ansammlung von Leuten, die sich unter ihrem Schlafzimmerfenster auf der Straße gebildet hatte, weil oben der Kasper von der Fensterbank gerufen hatte: „tri tra tru-la-la Kasperle ist wieder da“. So hatte er die Aufmerksamkeit von ein paar der sonntäglichen Kirchgänger auf sich gezogen, die tatsächlich stehen blieben. Wer hinter dem Kasper sprach, war das siebenjährige Mädchen, das sich sonntags morgens von der Fensterbank aus im ersten Stock in die Herzen der Kirchgänger einspielte, weil es ein Publikum für seine Geschichten suchte. Die Eltern nebenan im Zimmer schliefen noch, und die Oma zu Besuch im Gästebett schnarchte wie ein Wolf. Deshalb hatte sich die kindliche Fantasie eine Lösung ausgedacht, die allen mit dem Kasperspiel Spaß machen sollte. Auf diese Weise hatte sich die Kleine mit dem Spiel die Zeit bis zum Frühstück vergnügt und die Kirchgänger auf ihrem Weg zur Heiligen Messe mit ihrem Kasperspiel erheitert. Sie waren tatsächlich stehen geblieben auf ihrem eiligen Weg zum Gottesdienst – nun schon einige Male sonntags – wenn ihnen der Kasper freundlich „Guten Morgen“ zurief, sich sogleich die Großmutter schnappte, sich vor ihr verbeugte, um sie zum Walzertanzen aufzufordern. Dazu sang das Mädchen im Hintergrund, hinter dem langen Vorhang versteckt, die Melodie, die man zu dieser Zeit überall kannte: „Warum ist es am Rhein so schön, am Rhein so schön? Weil der Franzmann, der Drecksack, das Rheinland besetzt hatt‘, darum ist es am Rhein so schön, am Rhein so schön“. Dabei konnte man den Spaß der Kleinen am Singen deutlich hören, wenn sie vor Begeisterung bei der Wiederholung des Wortes „Rhein“ tatsächlich unbewusst zu tremolieren anfing wie eine Primadonna. Der Kaspar fasste die Großmutter um die Hüfte, und beide schwebten in dem Zauber der Stimme des kleinen Mädchens über die Fensterbank in die Luft und wieder zurück, mal dicht zusammen, einmal die Großmutter hier und der Kasper dort am anderen Ende der Fensterbank, wieder fröhlich aufeinander zugehend, bis das Spiel ein Ende fand, weil einer der Zuschauer auf die Uhr schaute und flink in den Pfad zur Kirche einbog. Sogleich folgten ihm die anderen Kirchgänger und der Kasper rief ihnen nach: „Bis zum nächsten Sonntag!“ Der ein oder andere winkte sogar zurück: „Ja, bis zum nächsten Mal.“
Nun war es auch Zeit zum Frühstück zu gehen. Das Fenster wurde geschlossen – Vorstellung beendet! Der Kasper und die Großmutter wurden wieder in das Köfferchen gelegt bis zur nächsten Vorstellung. Die war erst am nächsten Sonntag. Zu lang!, erschien es dem Mädchen, und es dachte nach über eine weitere Aufführung unten im Hof. Die Treppe im Hinterhof zur Fahrradwerkstatt des alten Herrn Kessel erschien geeignet für die nächste Theater-Aufführung. Schnell wurde am Treppenaufgang eine Decke gespannt, eine hervorragende Bühne für Kaspervorstellungen. Die Nachbarn von gegenüber kamen mit ihren Enkeln, gaben ihren Kommentar dazu ab und ermunterten die Kleine mit ihren Ideen. Sie schleppten Garten- und Küchenstühle herbei, dass der Zuschauerraum – der alte Bauernhof – immer mehr einem Theater glich. Nun war das Hinterhoftheater fertig, und es konnte losgehen.
Meine Kasperfiguren hatten keine Schnüre, mit denen man die Bewegung hätte präzisieren können. Es waren nur die Köpfe, die ich mit meinen Fingern bewegte, die mit Mutters Hilfe bekleidet waren mit Stoffresten aus der Flickkiste. Ausgediente Nazi-Fahnen oder alte Kleider, die zerschnitten wurden, kamen nun neu zur Geltung. Schön sahen sie aus, meine Kasperpuppen! Nun schon eine Handvoll: der Kasper, die Großmutter, die Gretel, der Seppel und der Wachtmeister. Es war gar nicht leicht in der damaligen Nachkriegszeit, Kasperköpfe zu bekommen. Solch einen Luxus konnte man nicht öffentlich kaufen.
Es ist eine besondere Geschichte, wie ich vor der Währungsreform zu meiner ersten Kasperpuppe kam. Durch eine aus der Stadt evakuierte Familie, die Bezug zu einem Freund hatte, der Kasperköpfe bastelte, kaufte ich für teures Geld – damals noch in Reichsmark – den ersten Kasperkopf. Das Geld dafür verdiente ich mir mit dem Einsammeln der Kartoffelkäfer von den Feldern, die damals noch nicht gegen Schädlinge gespritzt wurden. Mein Vater bezahlte für jeden Käfer einen Reichspfennig. Ein winziger Teil des Vermögens an Geld für einen Kasperkopf, ein Unvermögen das ganze Unternehmen! Aber es gab eine Lösung: Alle Kinder meiner Klasse versorgten mich abends mit ihren Kartoffelkäfern, und ich präsentierte sie stolz dem Vater. Der hatte die List durchschaut, aber er spielte das Spiel mit. Nach Tagen hatte ich das Geld zusammen auch mit Vaters Großzügigkeit konnte ich endlich meinen Kasper kaufen.
Damals wurde der Kasper, der Bajazzo, für mich geboren und zur Hintergrundfigur, die unbewusst mein Leben steuerte. In der „Commedia dell Arte“, dem italienischen Theaterspiel, das zur Zeit der blutigen Kriegswirren des nördlichen Europas im 30-jährigen Krieg Anfang des 17. Jahrhunderts in Italien entstand, vertrat der Harlekino munter die Stimme des gemeinen Volkes in seiner Rolle als Spaßmacher.
Obwohl das Traurigsein meine Lebensgrundstimmung war, war ich dennoch froh, wenn ich andere mit einem Spaß aufheitern konnte; den „Kasper“ zu machen, ohne an meine eigene innere Trübnis zu denken. Mit der Pubertät kam der Bajazzo auf die Lebensbühne. Von allen möglichen Fäden gezogen, vielen Impulsen getrieben, handelte das kleine Individuum einmal in diese Richtung und einmal in jene, immer auf die Reaktion seiner Mitmenschen achtend, aber im Untergrund traurig gestimmt. So lernte der junge Mensch seine Rolle im Theater des Lebens einmal tieftraurig und dann wieder hinreißend mitfühlend anzunehmen. Dabei spürte ich zuerst gar nicht die innere Leere, die dahinter stand. Im Laufe des Lebens aber lernte ich mehr und mehr auf meine eigene innere Stimme zu hören und besser zu unterscheiden, was eigen und was fremd ist. Nach und nach gelang es mir, die Fäden meines Lebens selbst zu steuern und „Ich“ zu sagen, sich den vielen anderen Stimmen entgegenzustellen. Das war ein schwieriger Prozess. Es hieß, von der Rolle des Kaspers zum Strippenzieher aufzusteigen.
„Tri, tra, trula-la, Kasperle ist wieder da“. Die Nachmittagsvorstellung konnte beginnen. „Kinder habt ihr den Wachtmeister heute schon einmal gesehen?“ fragte der Kasper seine Zuschauer.„Wenn er kommt, dann sagt ihr es mir! Ich will ihm nämlich seinen dunklen Bart abschneiden, dass er nicht mehr so finster ausschaut, hier mit dieser großen Schere, die der Großmutter gehört. Wenn er kommt, dürft ihr aber nichts verraten! Versprochen?“
„Ja“, schrien die Kinder aus vollem Hals.
Zwischenszene: Großmutter sucht in der Küche ihre Schere, die sie doch eben noch in der Hand hielt und dort auf den Stuhl gelegt hatte. „Kinder habt ihr meine Schere gesehen? Ich hatte sie doch eben noch in der Hand.“
Ein kleiner Knilch aus dem Zuschauerkreis rief: “Der Kasper hat sie mitgenommen, er will doch dem Polizisten den Bart abschneiden.“
Da kommt der Wachtmeister auf die Bühne, torkelnd und müde von der Nachtarbeit mit dem Verbrechervolk.
„Ich lege mich hier an die Hecke und schlafe ein wenig“, sagt er zu den Kindern. Ein paar Augenblicke später kommt der Kasper mit der Schere und behänd – ritsch ratsch – schneidet er dem Wachtmeister den Bart ab, hält ihn als Trophäe hoch, um ihn den Kindern zu zeigen. „Den bringe ich jetzt zur Großmutter“.
Die Kinder jubelten laut, weil der Wachtmeister nicht mehr so fürchterlich streng aussah und die ganze Tat so pfiffig vonstatten gegangen war. Als der Schutzmann von dem Lärm der Kinder erwachte, beschwerte er sich über den Krach und schrie die Kinder an, sie sollten nicht so laut sein. Die tobten aber umso mehr. Als er seinen Finger auf den Mund legte, um „psst!“ zu rufen, spürte er, dass er keinen Bart mehr hatte. Alles fühlte sich so glatt an. Da erschrak der Wachtmeister sehr und fragte die Kinder, wo sein Bart wäre. Die verrieten ihm, dass der Kasper ihn abgeschnitten habe. Darauf schrie der Polizist: “Den Schurken werde ich mir sogleich schnappen und im Kerker einsperren.“ Er würde den Kasper suchen und die Kinder sollten ihm helfen. Das war natürlich ein Irrtum. Die Erzählung geht weiter, dass der Wachtmeister den Kasper findet, ihn in den Kerker einsperrt, und der Kasper mit Hilfe der Kinder wieder befreit wird.
Das Thema „Gefängnis“ brachte später in der Puppenspielerin tiefe Gedanken auf den Weg. So wie sie die Puppen managte, so wurde sie auch selbst immer wieder von allen möglichen Stimmen von außen bewegt, denen sie Folge leisten musste. Sie saß wie gefangen in einem Gewirr von Fäden und Strippen, aus dem sie meinte, sich befreien zu können, indem sie jeden Wunsch ihrer Mitmenschen erfüllte. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Sie konnte sich nur befreien, wenn sie auch sich selbst Rechnung trug. Ein handelndes Ich, das souverän entscheidet, das innere Fadengewirr zu durchschneiden, wollte sie entwickeln lernen. Die Einsicht: das ist gut für mich oder dies übersteigt meine Kräfte oder auch meinen Willen, sollte in Zukunft ihr Handeln lenken. Sie nahm sich vor, dies in nächster Zeit auszuprobieren. Und sie beschloss, wenn es nötig war, „Nein“ zu sagen und manche Entscheidungen besonnener zu treffen. Aber im Unterbewussten war der Kasper die literarische Figur, die ihr Leben und auch ihr Schreiben bestimmte. Sie musste den Sound nicht kreieren, er war da.
Gleichzeitig wurde ihr auf der anderen Seite klar, dass diese inneren Stimmen ihre Kreativität anregten. Manchmal gelang es ihr, wenn sie ihnen zuhörte, ihnen in Texten oder Gedichten Gestalt zu geben. Das frühe Spiel mit den Kasperfiguren war die beste Basis für einen kreativen Umgang mit Stimmen und Texten. Zugleich konnte sie ihrem Leben ein bisschen Glanz verleihen. Dieser hatte sich schon früh gezeigt, damals auf der Fensterbank mit dem Kasper, als er mit der Großmutter Walzer tanzte.